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Ökonomie des Graffiti-Sprühens

Eine durchaus interessante Herangehensweise obgleich die Kalkulation des Herrn unterm Strich wenig Sinn macht, jump

Moses & Taps – International Top-Sprayer – zur Ökonomie des Graffiti-Sprühens
von Christian Wickert

1.000 Züge in 1.000 Tagen – so lautet das ehrgeizig anmutende Projekt der beiden selbsternannten “International Topsprayer” Moses und Taps. In dem jüngst erschienenen gleichnamigen Buch dokumentieren Sie ihre Arbeit, die sie durch ganz Europa und bis nach Südamerika führte. Dabei beeindrucken die beiden deutschen Sprayer nicht alleine durch die bloße Menge der Bilder, sondern vor allem auch durch die unglaublich hohe Qualität ihrer Arbeit – zumal wenn man sich vergegenwärtigt, unter welchen Arbeitsbedingungen die Bilder größtenteils entstanden sein dürften. [Von diesen widrigen Umständen zeugen unzählige Videos auf YouTube. Wer sich hiervon einen Eindruck verschaffen möchte, könnte sich beispielsweise diese Dokumentation eines “Nachteinsatzes” von einigen Hamburgern Sprayern anschauen.]

Angesichts der unglaublichen Produktivität der Sprayer, stelle ich mir die Frage nach der Finanzierung eines solchen Großprojektes. Gerade die Cultural Criminology hat sich ausführlich mit dem Thema Kommodifizierung des Verbrechens und der Verbrechenskontrolle beschäftigt. Ich möchte im Folgenden jedoch einmal aus einer anderen Perspektive das Buchprojekt von Moses und Taps betrachten. 1.000 Züge in 1.000 Tagen auszukundschaften, zu bemalen und zu fotografieren erscheint eine logistische Meisterleistung zu sein, die von langer Hand geplant werden muss. Daher unterstelle ich den beiden Autoren eine rationale und gewinnorientierte Herangehensweise an das Projekt. Anhand einiger Rechenbeispielen möchte ich herausfinden, ob sich Sachbeschädigung in 1.000 Fällen eine lohnenswertes Unterfangen herausstellt.

Angenommen ein durchschnittliches Bild ist 4,5 Quadratmeter groß (1,50 Meter hoch und 3 Meter lang) und mit einer herkömmlichen Sprühdose mit 400 ml Inhalt ließe sich eine Fläche von einem halben Quadratmeter bemalen, so benötigte man pro Bild neun Dosen Farbe. Der Preis pro Farbdose liegt bei ca. vier Euro. Nehmen wir einmal an, dass Moses und Taps als Großabnehmer einen Mengenrabatt bewilligt bekommen und nur 3,50 Euro pro Dose zahlen, so kostete die Farbe für ein Bild 31,50 Euro. Für die 1.000 bemalten Züge haben die beiden Sprayer nach dieser Rechnung also Farbe im Wert von 31.500 Euro verbraucht.

Die Werke sind in ganz Deutschland, in unterschiedlichen europäischen Ländern und sogar in Übersee entstanden. Hier entstehen selbstverständlich Reise- und Übernachtungskosten. Wir unterstellen, dass die Sprayer jeweils bei Bekannten unterkommen konnten und daher keine teuren Hotelübernachtungen zu zahlen waren. Bleiben also die Reisekosten: ein Teil der Bilder sind Gemeinschaftsproduktionen der beiden Sprüher. Um unsere Rechnung zu vereinfachen, gehen wir aber davon aus, dass pro entstandenes Bild nur eine Person anreisen musste. Als regelmäßige Bahnfahrer besitzen Moses und Taps die Bahncard50. Um unsere Rechnung zu vereinfachen, unterstellen wir weiter, dass sie für alle Bilder eine Anreise in Kauf nehmen mussten, aber sich jeweils nur innerhalb Deutschlands bewegten. Eine einfache Fahrt quer durch die Bundesrepublik (ca. 300 km) kostet mit der Bahncard50 ca. 35 Euro (z.B. Hamburg-Kassel= 36 Euro). Zu den 31.500 Euro Kosten für die Farbe kommen nach dieser groben Überschlagsrechnung also noch einmal 35.000 Euro Reisekosten hinzu.

Die Spesen- und Übernachtungskosten, die im Rahmen des Projektes benötigt wurden, beliefen sich nach dieser groben Schätzung also auf 66.500 Euro.

Selbstverständlich ist nicht bekannt, ob und wenn ja welcher Erwerbstätigkeit die beiden Sprüher in ihrem bürgerlichen Leben nachgehen. (Die Sprayer treten aus nachvollziehbaren Gründen nur unter Ihren Sprayernamen Moses und Taps auf.) Es dürfte jedoch klar sein, dass die jeweiligen Vorbereitungen, das Sprühen selbst und das spätere Fotografieren eine Menge Zeit veranschlagen, die mit einer 40-Stunden Arbeitswoche vielleicht nur schwer zu vereinbaren sind. Der Erlös des Buches müsste diesen “Verdienstausfall” also zumindest kompensieren. Der durchschnittliche monatliche Bruttoverdienst eines Mannes beträgt 2.909 Euro (Quelle). Für eine halbe Stelle auf 1.000 Tage (1.000 Tage / 365 x 12 x 1.454,5 Euro) wären also noch einmal 47.819 Euro Verdienstausfall hinzu zu zählen. Es erscheint angemessen hier den Bruttoverdienst zur Grundlage zu nehmen. Rechengrundlage ist der Durchschnittsverdienst. Zöge man das außerordentlich hohe Risiko in Betracht, das die beiden Sprüher eingehen (potentielle gesundheitliche Risiken aber vor allem das Risiko einer Strafverfolgung und hohen Schadensersatzforderungen), so ließe sich sicherlich auch ein höheres Monatseinkommen als Rechengrundlage rechtfertigen.

Summiert man die Kosten für die Farbe, die Reisekosten und den Verdienstausfall, belaufen sich die reinen Produktionskosten des Buches auf 104.319 Euro. (Wer mir bis hierhin folgen konnte, wird bemerkt haben, dass die Kosten für die eigentliche Produktion des Buches – Verfassen der Texte, Layout, Satz – noch gar nicht berücksichtigt sind.)

Der Verkaufspreis des Buches liegt bei knapp 30,00 Euro. Der hochwertige Farbdruck und ein sehr aufwändig gestaltetes Cover dürfte für hohe Produktions-/Druckkosten gesorgt haben. Hinzu kommen selbstverständlich noch die Ausgaben des Verlages für Marketing und Vertrieb. Nehmen wir an, der (unversteuerte) Reingewinn eines verkauften Buchexemplares läge bei 15 Euro (was vermutlich deutlich zu hoch gegriffen ist), hätten sich die entstandenen Kosten in Höhe von 104.319 Euro nach 7.621 verkauften Einheiten egalisiert. Das Buch ist zweisprachig (Deutsch und Englisch) verfasst, so dass ein internationaler Vertrieb möglich ist. Aber bedenkt man, dass der Markt für Graffiti-Bücher sich auf kleine lokale Szenen beschränkt und der Verkauf vermutlich im Wesentlich über kleine Internet-/ Mailorder-Versandhändler abgewickelt werden wird, lässt sich mit ziemlicher Sicherheit behaupten, dass dieses Werk niemanden zum Millionär machen wird.

Angesichts des hohen persönlichen Risikos, dass die Sprüher mit ihrer Arbeit eingehen, steht der zu erwartende finanzielle Gewinn aus einem Projekt dieser Art also in keinerlei Verhältnis. Guten Gewissens kann ich daher jetzt sagen: unterstützt die illegale Beschäftigung von Moses und Taps und kauft das Buch; denn ein qualitativ höherwertiges Buch zum Thema werdet ihr derzeit nicht finden und Graffiti-Sprayer haben es auch nicht leicht.

Quelle: Christian Wickert / criminologia.de
Foto: SF

Das Buch gibts immer noch hier!