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STERN Artikel 1989 – Graffiti – Kunst aus der Dose

Der nachfolgend aufgeführte Presseartikel wurde im STERN Magazin Heft 38 am 14. Septemper 1989 veröffentlicht. Ein früher Bericht über die deutsche Graffiti- und Hip Hop Szene Ende der 80iger Jahre! Der Text wurde mittels ocr-Texterkennung eingescannt. Vielen Dank an René Ortner!

Graffiti – Kunst aus der Dose

Mit “Brombeere” und “Flieder” ist SED-1 bewaffnet. BAS hat “Himbeere” und “Pariser-Blau” unter seiner Jacke versteckt. Mit ihren Farbdosen schleichen die beiden dunklen Gestalten über einen schwarzen Acker, schieben sich durch stachelige Büsche, ducken sich, wenn Wagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern an ihnen vorbeirasen. Als alles still ist, klettern sie einen Mast hoch und entern ein Schild, das blau über der Autobahn leuchtet. Tief unter ihnen liegt jetzt die Piste von München nach Passau. Ihre Gesichter haben die Zwei mit Tüchern verhüllt.

Während unten Fernlaster vorbeidonnern, beginnen die Farbdosen zu zischen. Mit schnellen Bewegungen werden die Umrisse riesiger Buchstaben auf die Rückseite des Schildes gesprüht. Dann werden die Formen mit bunten Tönen ausgefüllt, die Konturen nachgezogen. Der Geruch von Lack zieht weit über die Kuhwiesen. “SED-1” strahlt, als die fertigen Lettern in vorbeiwischenden Lichtkegeln glänzen. Triumphierend hebt er seine letzte Dose in den Himmel: “Hier oben” sagt er auf dem Schild, das im Wind schwankt “Da bist du der King.” Die Könige der Nacht haben an vielen Stellen in Deutschland ihr Zeichen hinterlassen. Von Hamburg bis München, von Dortmund bis Berlin sind immer mehr dieser “writer” am Werk: Sie sprühen ihre knallbunten Figuren an Autobahnbrücken und Fabrikhallen, sie hinterlassen ihre Botschaften auf Bahnhofsmauern und Häuserwänden.

Aber keine Politparolen gegen “Bullenterror” oder “Iso-Folter” zischen aus der Dose, sondern merkwürdig verschlungene Linien, Chiffren die mal zerfließen, mal in Bruchstücke zu explodieren scheinen – Nachrichten aus einer fremden Welt: Graffiti. Graffiti wurde in der Bronx geboren. Slum-Kinder in New York waren Anfang der siebziger Jahre die ersten, die sich Phantasienamen gaben und sie an möglichst viele Wände und U-Bahn-Wagons schrieben. Ihre “Tags”, tausendfach gezeichnete Kürzel, immer schwungvoller, immer größer, waren ihr Weg, sich einen Namen zu machen: “Fame” wollten sie, Ruhm raus aus dem Nichts.

Als in New York aus den kleinen Kürzeln schon große Graffiti geworden waren, kam der Kult nach Europa. “Wild style” hieß der Film aus der Bronx, der auch für Kinder aus besseren Kreisen wie eine Bibel war. Erst gab es nur wenige Sprühbilder in der Bundesrepublik, die auch möglichst schnell wieder übermalt wurden, aber inzwischen scheint das Fieber ausgebrochen.

In Dortmund sin die Mauern von Bahnstrecken über Hunderte von Metern “gebombt”. Und in München entstand die größte wilde Open-air-Galerie der Welt. Graffiti-Gruppen aus der ganzen Republik waren am Werk als aus den Wänden am alten Flohmarkt ein riesiger Comic strip wurde. “Writer” wie die “Milch Bubi Guys” oder die “United Artists” haben dort nicht nur ihre Namen in verschlungenen Linien hingesprüht sondern auch “Erotische Helden im Paradies” und “Megamaschienen” und eine “Unterwelt”: Roboter neben Pin-up-Girls mit gespreitzten Beinen, Monster neben Kraken und Zwergen und Dämonen, dazu Ornamente in Jade-Grün oder Pink, Fuchsia oder Minze. Gibt eigentlich keine Farbe, die da nicht drauf ist”, sagt “Loomit”, der das meiste machte, “das ist eine verdammte Sucht.”

“Loomit” ist der Star der Szene. Dabei hatte der 20jährige Münchner mit den schwarzen Haarsträhnen und den goldenen Ohrringen einen peinlichen Fehlstart. Sein erstes Bild war ebenso farbenprächtig wie falsch geschrieben.

Ganz groß hatte er den Schriftzug “Graffitti” gesprüht. Damals wußte er noch nicht, daß man bei dem aus dem Italienischen stammenden Wort mit einem “t” weniger auskommt.

“In der Pampa habe ich angefangen”, sagt der Mann mit den ständig farbigen Fingern, “das war in meiner Heimatstadt im Allgäu, als eine Austauschschülerin Fotos aus New York mitgebracht hatte.” In München begann er, S-Bahn-Wagons nächtliche Besuche abzustatten. Sie sind besonders beliebt bei den “writern”. Weil sie manchmal mit einem Bild an der Wand durch die halbe Stadt fahren.

“Loomit” gehörte zu dem Trupp, der erstmals in Europa einen ganzen S-Bahn-Zug sprayte: einen “whole train”, Traum jedes “Sprühers”. Das war in Geltendorf bei München.

“Wir sind da nachts unter Güterwaggons durch in dieses Depot geschlichen”, sagt “Loomit”, “und haben ne riesengroße Panik geschoben, wenn`n Scheinwerfer kam.

Wir wußten ja gar nicht, ob da Heizer langkommen, ob da wer in dem Zug schlafen würde. Zweieinhalb Stunden haben wir gearbeitet. Dann hätt ich mich kranklachen können. Das war voll der Rausch”.

“Loomit”, der in seinem kahlen weißen Münchner Appartement Hunderte von Farbdosen unter dem Bett aufbewahrt, hat nicht nur in der Bundesrepublik seine Spuren hinterlassen. Der Mann, der “aus Spass” mal ein bisschen Philosophie studiert hat und jetzt als “Zivi” in einer Jugendherberge jobbt, hat auch Wände in Amsterdam und Paris und Mailand bearbeitet.

Und fast hätten ihn Cops in New York erwischt. Das ist immer noch das Mekka aller “writer”, und dort kommt auch die Musik her, die sie hören, wenn sie sich zum “jam” treffen: Dann klingt selbst ein schlichtes Jugendheim in Gießen, wo jüngst ein großes Sprüher-Meeting stattfand. Wie eine Mega-Maschienenfabrik. Es kracht und es zischt, es rattert rythmisch, ohne Pause powern die Boxen: Hip-Hop heißt die Musik bei der ein “DJ” Schallplatten “scratcht”. Er kratzt so wild darauf herum, das es schrille Geräusche gibt, und Sprechgesang mischt sich dazwischen: “Da city is da field for da jungle game”, ruft der Sänger der “Jungle Kids” monoton ins Mikro. Die schwarze Halle ist sein Dschungel, und zweihundert Hip-Hopper in Gießen spielen mit.

Die “Criminal Art Crew” aus Oberhausen ist gekommen, die “Radical Writer Association” aus Heidelberg und die “Easy Colour Produktion” aus Aschaffenburg. Trillerpfeifen werden geblasen, Jungs mit verkehrt herum aufgesetzten Schirmmützen und ihren “writer”-Namen auf riesigen Gürtelschnallen machen Breakdance.

“Bomber 1” von der “Gummibärchenfront” aus Frankfurt sagt im Flur zwischen frischen Farbgerüchen: “Wir kämpfen gegen Schickimickis für `ne ehrliche Sache, und ohne Drogen. Die Dämpfe törnen genug.”

“King” auf der Tanzfläche ist heute wieder mal Sunny aus Hamburg. Im Breakdance gewinnt er jedes “battle”. Der schwarzhaarige Junge halb Holländer, halb Indonesier, wirbelt wie ein Olympiaturner über den Boden, dreht sich – einen Arm auf einer Cola – Dose – im Kreise. macht auf dem Kopf stehend mit schwingenden Beinen und Armen Pirouetten: Die “Windmill” ist sein bejubelter Hit.

Sunny hat früher Kung-Fu trainiert und Karate, jetzt übt er beim Polizeisportverein in Hamburg. Aber er stzt nicht nur auf Kraftsport. Neben Breakdance-Pokalen stehen balinesische Schitzereien in seinem Zimmer. Der Junge mit der sanften Stimme lernt Design an der Fachoberschule, und er sprüht auf seine Graffiti, die besten Hamburgs, auch Elfen. “Sunny” haßt inzwischen die “Kids” die mit künstlich kaputten Klamotten “bronxmäßig” rumlaufen, und für ihn ist verrückt, was er selbst mal gemacht hat: “Windmill” auf einem fahrenden Zug.

Mit Graffiti und Breakdance und Hip-Hop-Musik ist noch ein anderer Kult nach Europa gekommen. “S-Bahn-Surfen” heißt das Virus, das in Hamburg, aber auch in Berlin und München grassiert. Bei voller Fahrt drücken Jugendliche die Türen der S-Bahn von innen auf oder sie springen vom Bahnsteig auf anfahrende Züge. Dann hangeln sie sich, mit Skibrillen und Mundtücher maskiert, an den Wagen entlang. Oder sie klettern aus geöffneten Fenstern. Bei Tempo 100 hängen sie sich in den Fahrtwind.

“Das kribbelt so schön”, sagt “Cast 1″, 15 Jahre, Realschüler in Hamburg. Das ist eben `n Nervenkitzel”, meint die 14jährige “Cassy” von den “Bronx Sisters”, die wie ihre Freundinnen aus einem Hamburger Heim kommt. Immer mehr Jugendliche finden den Ritt auf der rasenden Bahn “ultra-cool”, und sie sind von dem Wahnsinnstrip nicht mal abzubringen, obwohl immer wieder einer von ihnen abstürzt.

Andreas, ein 18jähriger Tischlerlehrling aus Hamburg, prallte im August gegen eine Tunnelwand und stürzte dann auf die Stromschiene. Er verlor ebenso sein leben wie der 15jährige Hauptschüler “Jasic”, der gegen einen Betonpoller geprallt war.

“Marc” zertrümmerte sein Becken an einem Mast, als er sich aus einem Zug hängte, und Martina, 14jährige “Bronx Sister” knallte mit dem Kopf gegen einen Streckentelefon-Pfeiler. Mit schwersten Schädelverletzungen lag sie über eine Woche im Koma. Und auch in Berlin sind inzwischen zwei “Surfer” tödlich abgestürtzt.

“Writer” sind eigentlich die ersten gewesen, Die auf den Zügen herumturnten. Es ging darum, eine möglichst ausgefallene Stelle für ihren “tag” zu finden, einen Platz, auf dem ihr Name durch die Stadt fährt. Inzwischen sind Sprayer wie Sunny nicht mehr lebensmüde, und sie finden es schlimm, wenn immer Jüngere nur noch mit der Gefahr spielen. Aber wir wollen nichts anderes. ” Wir wissen was wir tun”, sagt “Cruz”, der mit zusammengekniffenen Augen aus einer aufgestemmten Tür hängt, ” wir würden`s ja nicht machen, wenn`s nicht gefährlich wär`.”

Seit Monaten jagt eine “Soko Graffiti” die Surfer und Sprayer. Die Hamburger Bahnpolizei fürchtet nicht nur weitere Verletzte und Tote. Der Bundesbahn wird auch das Graffiti Fiber langsam zu bunt.

“Wir hatten hier im letzten Jahr insgesamt drei Millionen Mark Schaden an Waggons und Wänden”, sagt Soko-Chef Bodo Claußen, “sauberwaschen läßt sich der Zug nicht und 96000 Mark kostet es allein, einen Zug neu zu lackieren.” Und einfach weiterfahren lassen? “Unmöglich, dann gibt`s doch immer mehr Nachahmer.”

Bei Nacht und Nebel jagen die Beamten in S-Bahn-Depots nach den “writern”. Mehr als 150 Jugendliche wurden schon festgenommen, und bei Wohnungsdurchsuchungen fielen den Polizisten unzählige Skizzen in die Hand.

Ermittlungsverfahren laufen, und beste Beweismittel sind die “Kamikaze-Fotos”, die Sprüher oft von ihren eigenen Aktionen machen, Bodo Claußen hat in den Räumen der Bahnpolizei die schönste und größte Kollektion von Graffiti-Fotos die in Hamburg zu haben ist.

Der 34jährige Beamte mit dem breiten Schnäutzer, der mal einen Ohrsticker trägt, mal einen kleinen Haarzopf, ist durchaus kein Feind eines schönen Graffiti. Nur schön legal muß es sein, keine “gemeinschaftliche Sachbeschädigung”.

Deshalb hat er sich dafür eingesetzt, daß auf zwei Hamburger Stationen Flächen offiziell besprüht werden dürfen. Dabei gab es sogar eine Bahnreise zu gewinnen. Und Claußen ist auch nicht böse, wenn in seinem Büro Firmen anfragen, ob er nicht Graffiti-Künstler vermitteln könnte. Da freut sich die “Mad Artists Cooperation”.

28 Mitglieder zählt diese Gruppe inzwischen, die nur noch legal arbeiten will.

Für ein paar hundert Mark verziert sie Kneipen oder Friseurläden, oder sie macht ein blitzblankes Hafenpanorama für einen Hamburger Rummel, wie es der Schildermaler von der Reeperbahn nebenan nicht besser machen könnte. “So was wollen die Leute halt”, sagt Boss “Zico” ein bisschen kleinlaut beim Anblick auf die Schaustellerbuden. Auf besondere Bestellung haben die “Mad Artists” da auch noch reihenweise Rettungsringe und Anker und Herzen hingesprüht.

In München gibt es eine noch größere legal arbeitende Gruppe. Die “Euro-Graffiti-Union” hat allein an der Isar mehr als 200 Mitglieder und einen Professor als Sprecher. Peter Kreutzer, Dozent für Volkskunde an der Fachhochschule München, half die “Gesellschaft für Straßenkunst und Jugendkultur” zu gründen. Die brachte es inzwischen bis zur Bambi-Preißverleihung: Bei der Feier standen “EGU” – Graffiti auf Leinwand gesprüht um Foyer.

“Die pieces” von writern sind genauso wichtig, wie die Bilder etablierter Künstler”, sagt der Professor. Seine Sprüher haben Bauzäune und ein Bad in München bunt gemacht, und auch S-Bahn-Unterführungen schmücken durfen. Gleich 85 waren im Einsatz, als ein Postgebäude bei Augsburg eine farbenfrohe Mauer bekam.

Peter Kreutzer hofft, daß er die “kids” durch solche Aufträge von kriminellen Aktionen abhält. Schließlich drohen einzelnen Sprayern in der Bundesrepublik bereits sechsstellige Schadensersatzforderungen, und Münchener Richter verhängen schon Strafen bis zu acht Monaten, die noch auf Bewährung ausgesetzt sind. Aber da ist selbst Thomas Mante von der Münchner Bahnpolizei skeptisch, “wir haben schon 150 Täter ermittelt”, sagt der Beamte, der schon länger als seine Hamburger Kollegen hinter den Jungs mit den Spraydosen herjagt, “wir haben den Sohn eines Richters erwischt und auch den Sohn eines Polizisten.” Der Mann in T-Shirt und Turnschuhen erwartet, daß das “Katz-und-Maus-Spiel” bei Nacht und Nebel weitergeht: “Durch das legale wird das illegale Sprühen nicht aufhören. Das ist ein Traum.

Das sieht “Loomit” ähnlich. Der Star von der Isar kennt beides: Nicht nur das “Bomben” bei Nacht, sondern auch das sprühen für Scheine. Für Reemtsma hat er Werbewände gemacht und den “Test-the-west-Truck” gestaltet. Mit Aufträgen hat er sich den Trip nach New York finanziert.

In seinem Skizzenbuch hat “Loomit” nicht nur Fotos seiner Farbwerke aus der Bronx, sondern auch die Widmung des amerikanischen Graffiti-Genies Keith Haring. Den schätzt der Münchner Sprayer wegen dessen Kunst, aus Graffiti Geld zu machen, sich zu vermarkten. Er selbst möchte wie viele “writer” später mal in die “knallharte Werbung”. Doch vorläufig findet er das wilde sprühen noch “fünfmal so toll”.

“Loomit”, der eigentlich Mathias Köhler heißt und Sohn einer Redakteurin ist, wurde wegen illegaler Graffiti zweimal zu Arbeitsstunden und auch zu Schadenersatz verurteilt. Viele seiner besten Bilder sind übertüncht worden, und jetzt wurden auch die Münchner Flohmarkthallen abgerissen, auf denen der riesige Comic strip mit Monstern zu sehen war.

Doch die Monster werden wiederkommen – da ist sich “Loomit” sicher. Er denkt an die vielen nackten Betonwände, die in den Städten herumstehen, und an Leute wie “SED 1” und “BAS”, die sich auf laue Mondnächte freuen. “Wenn du nachts sprühst”, sagt der zierliche Mann mit dem Rucksack, in dem Farbdosen klickern, “dann hast du nicht nur das Gefühl etwas Gesetzloses zu tun, sondern du willst den Leuten etwas Freude machen.”

Er steigt in ein uraltes schwarzgestrichenes Auto, das wie ein Leichenwagen aussieht: “Graffiti, das ist das letzte Abenteuer, das in den Großstädten bleibt.”