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Reclaim Your City – Urbane Protestbewegungen am Beispiel Berlins

Passend zur Aktion von Freitag Nacht (BLU Mural an der Cuvry-Brache überstrichen) wollen wir es nicht versäumen auf »Reclaim Your City – Urbane Protestbewegungen am Beispiel Berlins« hinzuweisen. Das Buch wurde im November über den Verlag Assoziation A herausgegeben.

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Steigende Mieten, Privatisierung öffentlicher Flächen, Gentrifizierung und Verdrängung aus der Innenstadt sind die Folgen einer neoliberalen Stadtentwicklung, die zunehmend in den Fokus der Kritik gerückt ist.

»Reclaim Your City« gibt den urbanen Protestbewegungen eine Stimme, die sich demgegenüber mit unterschiedlichen Methoden den öffentlichen Raum aneignen und ein Recht auf Stadt reklamieren. Mittel der Gegenwehr sind physische Aneignungen wie Haus- und Platzbesetzungen, Blockaden von Bauvorhaben oder Zwangsräumungen, aber auch Demonstrationen und Verfremdung von Werbung, kritische Kartierung und Erstellung von Leerstandsmeldern. Das Buch erklärt die Strategien der Raumaneignung dieser Bewegungen und fragt danach, wie sich KünstlerInnen und GestalterInnen in der Stadtpolitik positionieren.

Anhand des konkreten Beispiels Berlin liefert das Buch einen repräsentativen Querschnitt durch die emanzipatorischen städtischen Bewegungen der aktuellen Zeit. Es beschreibt den Wandel der Städte im Neoliberalismus und stellt die Auseinandersetzungen um Macht und Teilhabe am städtischen Raum dar.

Trotz des Fokus auf Berlin bietet das Buch einen allgemein übertragbaren Überblick auf städtische Proteste weltweit. »Reclaim Your City« schlägt die bildliche und inhaltliche Brücke zwischen Mietprotesten, Nachbarschaftsgärten, Graffiti-Kultur und den Aufständen illegalisierter MigrantInnen.

Morawski, Tobias

Reclaim Your City
Urbane Protestbewegungen am Beispiel Berlins
Herausgegeben vom Pappsatt Medien-Kollektiv
ISBN 978-3-86241-437-6 | ca. 168 Seiten | Paperback | Zahlreiche Abb. | ca. 16.00 €
Verlag Assoziation A

Auszüge aus dem Buch:
(Bilder: reclaimyourcity.net, wenn nicht anders angegeben)

Bild oben: Symbolische Aneignungskämpfe auf der Spree – Gegen die geplante Bebauung und Privatisierung des Spreeufers setzt sich eine Initiative unter dem Motto »Spreeufer für alle« zur Wehr. Neben der Vertreibung von langjährigen AnwohnerInnen, Kultur­projekten und Clubs durch höhere Unterhaltskosten wird vor allem befürchtet, dass weite Teile des Spreeufers nicht mehr öffentlich zugänglich sein werden. Die Kampagne »Mediaspree versenken« setzte eine breite gesellschaftliche Debatte über die Stadtentwicklung in Gang.

Wem gehört die Stadt? Aneignungskämpfe gegen Privatisierung und Verdrängung

In zahlreichen westlichen Metropolen bestimmen seit einigen Jahren Themen wie die Privatisierung öffentlicher Flächen, explosionsartig steigende Mieten, Prozesse der Verdrängung aus der Innenstadt sowie die Forderung nach Partizipation die politische Tagesordnung. Wegen dieser Entwicklungen organisieren und vernetzen sich soziale Bewegungen auf der ganzen Welt für ein »Recht auf Stadt« für alle und engagieren sich für bezahlbaren Wohnraum in einer sozialen Stadt.

Mittel der Gegenwehr sind physische Aneignungen wie Haus- und Platzbesetzungen, Blockaden von Bauvorhaben oder Zwangsräumungen, aber auch Demonstrationen und Verfremdung von Werbung, kritische Kartierung und Erstellung von Leerstandsmeldern.

Bilder oben: Graffiti-Aktionen in Berlin
Urban Art: Selbstermächtigte künstlerische Eingriffe in den öffentlichen Raum

Unter dem Begriff »Urban Art« werden selbstermächtigte künst­lerische Eingriffe in den öffentlichen Raum zusammengefasst. Oft handelt es sich dabei um typografische Bilder wie z.B. Graffiti­ oder eher illustrative Werke (Street Art), die mit verschiedenen Techniken auf öffentlich sichtbaren Flächen angebracht werden. Die künstlerischen­ Interventionen schaffen einen wirkungsmächtigen alternativen Kommunikationskanal im städtischen Raum. Sie sind Ausdruck von sozialen Kämpfen um die symbolische Markierung und Besetzung des öffentlichen Raums.

Mit dem Aufkommen von Street Art als neuer künstlerischer­ Bewegung­ und ihrer steigenden Popularität kam es zu einer Renaissance­ von Wand- und Fassadenmalereien in Berlin. Ein Teil der Urban Artists nutzte bereits angeeignete Räume und Flächen für politische Wandbilder. Die bemalten Fassaden von Hausprojekten sind immer auch eine öffentliche Zurschaustellung von angeeignetem Raum. Über deren Gestaltung bestimmen die Bewohner*innen.

Bild oben: Das Berliner Plakatkollektiv Plakatief nutzt zentral gelegene Flächen an ehemals besetzten Häusern als Kommunikationsplattform für soziale Bewegungen. Seit den 1990er Jahren werden u.a. an der Brandmauer am Görlitzer Bahnhof, die gut aus der vorbeifahrenden Hochbahn zu sehen ist, großformatige Plakate mit aktuellen politischen Inhalten geklebt. Protest-Initiativen können sich an das Kollektiv wenden, wenn sie politische Themen in die Öffentlichkeit tragen wollen, die in kommerziellen Medien kein Gehör finden.

Bild oben: Pressekonferenz der Refugees auf dem Dach der besetzten Gerhard-Hauptmann-Schule während der drohenden Räumung /  Foto: Umbruch-Bildarchiv
Bild darunter: Aktion am Rande einer “Refugee Strike”-Demo in der Oranienstr.

Refugee Strike: Proteste für elementare Rechte

Geflüchtete und Migrant*innen begegnen ihrer »Unsichtbarkeit«, ihrer ökonomischen Mittellosigkeit und der verwehrten Mitsprache im gesellschaftlichen Alltag mit offensiven Kommunikationsstrategien: Sie »zeigen Gesicht« mit Besetzungen an zentralen Orten im öffentlichen Raum, mit Demonstrationen und Hungerstreiks in unmittelbarer Nähe der politischen Machtzentren.

Bilder oben: Kartierungsworkshop des Kollektivs orangotango

Kritisches Kartieren

Kritische Karten helfen, alternative Sichtweisen auf Räume aufzuzeigen, gesellschaftliche Machtverhältnisse und soziale­ Ungleichheiten im Raum sichtbar zu machen und zu analysieren. Sie können gesellschaftliche Akteure und widerständische Handlungen repräsentieren, die von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen werden, und ihnen Aufmerksamkeit und Gehör verschaffen. Karten können auch als Werkzeuge für die Praxis sozialer Bewegungen und anderer widerständiger Akteure dienen, indem sie Handlungsmöglichkeiten im Raum, in Bezug auf die Nutzung des Raums und hinsichtlich der Intervention in den Raum aufzeigen.
Die Idee, Karten mit alternativen Sichtweisen auf den Raum zu erstellen, entwickelte sich ausgehend von der kritischen Geografie und der Kritik an räumlichen Darstellungen seit den 1960er Jahren. Im gleichen Zug entdeckten soziale Bewegungen Karten als Medium, mit dem herrschende Machtverhältnisse in Frage gestellt werden können.

Bild oben: Beginn einer Besetzung in Berlin
Bild drunter: Das Teepeeland, ein Zeltdorf an der Spree
Haus- und Platzbesetzungen: Die Aneignung von physischem Raum

Besetzungen von Plätzen oder Häusern sind der direkte Weg der physischen Raumaneignung. Besetzungen können Räume temporär oder dauerhaft behördlicher Kontrolle und den Verwertungsinteressen der freien Marktwirtschaft entziehen und damit alternative Formen des Zusammentreffens, der produktiven Auseinandersetzung und des Zusammenlebens oft erst möglich machen.

Die Hausbesetzungsbewegung war Anfang der 1980er Jahre bestimmendes Thema in der Berliner Stadtpolitik. Noch heute gibt es hunderte Wohn- und Kulturprojekte in der Stadt, die aus Besetzungen hervorgegangen sind. Zeitgleich mit dem Erstarken der verschiedenen urbanen Protestbewegungen kam es seit 2012 wieder vermehrt zu Haus- und Platzbesetzungen in Berlin. Bekannteste Beispiele hierfür sind die von Refugees besetzte Gerhard-Hauptmann-Schule, der Nachbarschaftstreffpunkt der Initiative “Kotti & Co” oder die kürzlich geräumte Cuvry-Brache in Kreuzberg.

Bild: Free-Party des Kollektivs Die Räuber in Berlin-Neukölln
Free Partys: Temporäre Autonome Zonen

Free Partys sind selbstautorisierte, frei zugängliche und damit behördlich nicht kontrollierbare Partys und Kulturveranstaltungen. Um sie durchzuführen, werden private Räume wie leer stehende Häuser und Fabrikhallen, halböffentliche Räume wie z.B. die Vorräume von Banken oder Orte im öffentlichen Raum wie z.B. Parks, Brücken­unterführungen, Brachen oder Plätze vorübergehend angeeignet und als Veranstaltungsort genutzt. Durch das Mittel der Besetzung werden bürokratische oder ökonomische Hürden umgangen. So stehen behördliche Genehmi­gungen, gesetzliche Auflagen und Raummieten in der Regel der Möglichkeit im Weg, einen temporären Freiraum des Zusammentreffens zu schaffen, der sich ökonomischen Zwängen, staat­licher Kontrolle­ und herrschenden gesellschaftlichen Konventionen entzieht.

Zurschaustellung von angeeignetem Raum: Fassadenbilder an Hausprojekten und (ehemals) besetzten Häusern

Bild oben: “Wir bleiben alle” – Fassadenbild an dem (inzwischen geräumten) Hausprojekt Brunnenstr. 183 in Berlin-Mitte. (Foto: John Reaktor/reclaimyourcity.net)

Bild drunter: Das Kreuzberg-Wandbild der Kollektive Pappsatt, Orangotango und Memfarado an einem ehemals besetzten­ Haus zeigt, an welch unterschiedlichen Orten und wie vielfältig sich derzeit der Protest und Widerstand gegen Aufwertung und Verdrängung in Kreuzberg regt. Auf einem dem Spiel Monopoly nachempfundenen Spielbrett sind am Beispiel von Luxussanierung, Privatisierung des Spreeufers und Zwangsräumungen charakteristische Prozesse der profitorientierten Stadtgestaltung dargestellt, gegen die sich Protestinitiativen­ wie Kotti & Co oder die Refugees am Oranienplatz zur Wehr setzen. Das Wandbildmotiv entstand in Zusammenarbeit mit der Hausgemeinschaft.

Das Buch Reclaim Your City erscheint im Oktober 2014 im Verlag Assoziation A.
Release-Veranstaltung: Do 13.11.2014 im K-Fetisch in Berlin-Neukölln

Kontakt: tobias.morawski*at*jugendkulturen.de

Buch-Cover »Reclaim Your City«

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